Unsere Beziehungszeit-Vision: Sich vom Leben verführen lassen

Ich hab echt ein Thema mit dem Wort „Verführung“, sagt eine gute Freundin von uns im Hinblick auf unsere Seminare. Da mache sie zu. „Verführung“, das sei wie „Anmache“ ein schreckliches Wort. Bei ihr würden Assoziationen ausgelöst, die bei Manipulation und Rumkriegen enden. Doch sie würde sich nicht „benutzen“ lassen. Das sind harte Worte, die uns tief treffen. Und in der Tat hat es die erotische Verführung heutzutage nicht leicht und wird misstrauisch beäugt. Wir möchten jedoch eine Lanze für die Verführung brechen und verstehen sie als ein lustvolles, sinnliches Spiel, um einzutauchen in den Fluss des Lebens und der Liebe. Ja, denn Verführung ist in unseren Augen auch eine Huldigung an das Leben, seine Möglichkeiten, Schönheiten und Kostbarkeiten – und sie dient einer Liebesbeziehung im Besonderen. Wenn bell hooks schreibt, dass Liebe vor allen Dingen Absicht und Handlung sei, dann gehört Bewusstheit dazu, sich dieser Schätze bewusst zu sein und proaktiv tätig sein zu können. Dann geht es um Wissen, Handwerk, tatkräftiges Tun und gelebte Praxis. Denn eine Beziehung mit einem anderen Menschen hat man nicht, eine Beziehung führt man. Vielen ist nicht bewusst, dass sie diese Beziehung gestalten können, die Sexualpartnerschaft eingeschlossen. Für die meisten Paare gehört Sex zu einer als erfüllt empfundenen Partnerschaft. Sex ist die intimste Art der Kommunikation, er fördert die Bindung des Paares und ist zudem einfach nur gesund, wie zahlreiche Studien belegen. Jedoch, wenn man die Sexualpartnerschaft vernachlässigt, wird sie mit der Zeit müde, schläft dann irgendwann einmal ein und bei manchen Paaren stirbt sie sogar. Dann sind Paare einander nicht mehr Feuer und Flamme, sondern das gemeinsame Leben gleicht einem Leben in einer WG, angenehm und vertraut im besten Fall zwar, aber vielleicht auch monoton und farblos, ohne Esprit.

Verführung ist in unseren Augen auch eine Huldigung an das Leben, seine Möglichkeiten, Schönheiten und Kostbarkeiten – und sie dient einer Liebesbeziehung im Besonderen.

Seltene Intimkontakte können auch ein Indiz dafür sein, dass zwei sich sicher miteinander fühlen und keiner ständigen Liebesbeweise bedürfen. Und ja, wenn das für beide fein ist, dann ist das prima. Verführerisch kann auch ein gemeinsamer Tatort-Abend sein, bei gedimmtem Licht, einer Packung Schokoeis und Regenwetter draußen vor dem Fenster. Wenn es sich jedoch für mindestens einen falsch anfühlt, wenn das sexuelles Begehren schwindet, betritt der Frust die Bühne. Denn Porno und Dildo statt PartnerIn sind keine dauerhafte Lösung.

Wir glauben, dass lamentieren und sich arrangieren nicht hilft und das Leben für Monotonie zu kostbar und einzigartig ist. Ja, wir alle pflegen unsere Gewohnheiten. Doch eine Beziehung wird immer unbequemer wie eine zu eng sitzende Hose, wenn alles automatisch abläuft und als gegeben vorausgesetzt wird. Oder Grenzen strikt und elementare Themen unausgesprochen sind. Es gibt so viele unlebendige Beziehungen und Familien, die nur noch formal und leistungsoptimiert funktionieren. Man gratuliert sich zum Geburtstag, ist höflich und tauscht sich aus, über die Politik, die Urlaube und alle Welt – doch auf eine kalte Weise, d.h. ohne echte Nähe und Wärme, ohne Berührung – körperlich wie seelisch. Leistungsoptimiert sind die Menschen, weil sie einem konventionellen Bild von Partnerschaft entsprechen wollen, koste es, was es wolle. Diese Korrektheit und Ordentlichkeit, die da geframed wird, wie die Dinge zu sein haben, ist Teil unseres täglichen Problems und wenig verführerisch. Und dann redet man zwar, aber spricht nicht wirklich miteinander, über Bedürfnisse und innere Welten. Und so sieht er sie nicht wirklich und sie ihn. 

Gefangen im Korsett der Erwartungen und Ansprüche

Wenn der Respekt und die Aufmerksamkeit füreinander schwinden, der Sex eintönig und das Miteinander generell als wenig inspirierend empfunden wird, dann ist es allerhöchste Eisenbahn. Weil ihr euch jetzt mit Forderungen (und den zwangsläufigen Enttäuschungen und Verletzungen) „überfordert“. Weil ihr heimlich überlegt, wieviel ihr „investiert“ und „zurückbekommt“. Weil ihr euch innerlich trennen und euch aus dem Weg gehen, aber eben nicht entkommen könnt. Weil jetzt die Dämonen kommen, die das nicht gelebte Leben schickt. Selbst wenn jede(r) den Anderen „in Ruhe lässt“. Im Hebräischen bedeutet miteinander zu schlafen auch einander zu erkennen. Ich erkenne dich, sehe dich, nehme dich wahr und nehme dich an; das ist wohl das erotischste Gefühl, dass sich im Sexualkontakt einstellen kann.

Im Leben wie in der Liebe gilt: die Abenteuer warten auf uns jenseits der Komfortzone. Auch das echte Kennenlernen und authentische Einlassen.  

Fakt ist, eine Partnerschaft zu führen ist kein reines Honigschlecken. Es gibt Menschen, die wollen die Nähe und Intensität, den Aufwand und die Mühe einer Partnerschaft nicht und sind lieber Singles. Es gibt Menschen, die verabreden sich lieber ab und zu für schöne Schmetterlingsmomente, um dann wieder auseinander zu fliegen. Und es gibt Menschen, die scheuen die Herausforderung nicht und sagen: Jetzt erst recht. Sie wollen die Paarbeziehung zusammenhalten und wachsen lassen. Im Leben wie in der Liebe gilt: die Abenteuer warten auf uns jenseits der Komfortzone. Auch das echte Kennenlernen und authentische Einlassen.  

Dabei kommen wir in Paarbeziehungen alle an den Punkt, wo wir erkennen: Der Andere ist tatsächlich anders als ich. Er oder sie ist nicht so, wie ich will. Oder wie ich glaube, wie ich es will. Weil es so und so zu sein hat, weil ich es so sehr brauche, verdammt nochmal. Wir kennen es von uns selbst, wie es ist, feine Risse und Abstand wahrzunehmen, Reibungen, die bis zum Streit führen. Dieses ewige Spiel von Nähebedürfnis und die eigene Autonomie zu wahren, ist in jeder Beziehung eine Herausforderung, egal ob in monogamen oder offenen. Jedoch, Hitze entsteht durch Reibung. Hier liegt die Chance, wenn man sie denn als Chance begreift. Denn ein gesunder Egoismus, um die eigenen Bedürfnisse und Interessen zu kennen und klar zu vertreten, ist wichtig. Wenn man den Mut und das Interesse nicht mehr aufbringt, sich dem anderen zu zeigen und auch etwas vom anderen zu wollen, dann besteht die Möglichkeit, dass die Beziehung stirbt. Im Übrigen wirkt es ungemein verführerisch, wenn man sich gegenseitig zeigen kann, was gefällt und geil macht.

Intimität und Intensität als Ziel

Über das Anders-Sein des Partners begegnet man sich selbst auch immer wieder neu, was automatisch eine Entwicklung in Gang setzt. Marriage is a people growing machine, wie der Paartherapeut David Schnarch es einmal formulierte, wobei wir Marriage hier als Liebesbeziehung verstehen. Es lässt sich lernen, Unterschiede auszuhalten; Unterschiede wahrzunehmen und anzuerkennen: Ja, du bist anders. Und du sollst auch anders sein (und Dich nicht nur nach mir richten und mir alles recht machen), weil es interessant ist, dass du anders bist (selbst wenn mich das triggert). Eine Beziehung bleibt reizvoll, wenn beide Partner das wollen und füreinander spannend bleiben, sich gegenseitig immer wieder inspirieren und herausfordern. Auf diesem Wege können Partnerschaften immer tiefer gehen. Auch nach zehn, zwanzig oder dreißig Jahren sind Entdeckungen zu machen, „Fortschritte“ und neue Perspektiven, bei dem Menschen an unserer Seite, den wir schon in- und auswendig zu kennen meinen. Doch das mit der Vertrautheit ist ein Irrtum. Viele Paare kennen sich weniger gut als sie meinen. In uns stecken Triebe, die nur unter bestimmten Voraussetzungen zur Blüte gelangen. In uns ist etwas angelegt, dass sich auch unabhängig vom Anderen entfalten kann und darf. Und eine eigene Schönheit besitzt! Eine gelungene Paarbeziehung braucht die Größe, diesen Wandel zu ermöglichen und die partnerschaftlichen Grenzen immer wieder neu auszuloten, bis die Liebe sich irgendwann grenzenlos anfühlt. 

Und hier kommt die Verführung wieder ins Spiel. Denn wie bekommen Paare es nun hin, dass das Schlafzimmerfenster von innen wieder beschlägt?

Eine Beziehung bleibt reizvoll, wenn beide Partner das wollen und füreinander spannend bleiben, sich gegenseitig immer wieder inspirieren und herausfordern.

Viele Paare reden darüber, was sie stört. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe und betonen, was nicht gut ist. Oder sie sprechen gar nicht über Sex und vermeiden somit unangenehme Themen. Sie bleiben damit bei einem Nein und das ist nicht förderlich für die gegenseitige Anziehung. Hier stellen wir die Frage nach dem Sex worth wanting in den Raum, also die Frage, welcher Sex es einem wert ist, wirklich gewollt zu werden. Auf welche Art und Weise und auf was im Speziellen habe ich aktuell Lust? Dabei ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Verlangen essenziell. Wozu genau sage ich ja? In welchen Situationen spüre ich sexuelle Erregung und fühle mich lebendig? In unseren Augen ist es wichtig zu verstehen, dass Sex 

  • mit dem Einlassen und Einladen von Sexualität beginnt – wenn beide es wirklich wollen. Das heißt, bereits die Annäherung und Beschäftigung mit dem, wo ich vielleicht hin will, ist bereits Teil der gemeinsamen Sexualität. Es entsteht eine gewisse Stimmung, Verbindung bzw. Aura, die einen Möglichkeitsraum eröffnet; 
  • ehrlich sein muss und anders sein darf, als monotoner Rein-Raus-Penetrationssex. Aus dem Möglichkeitsraum darf ein Begegnungsraum werden;  
  • nicht politisch korrekt sein muss, nicht gerecht, nicht ausgewogen, nicht frei von Dominanz oder Rollenklischees; 
  • im Kern „Intimität und Intensität“ als Ziel hat, also die Verbindung stärkt, das gemeinsame Glück bereichert und uns insgesamt auflädt.

Sexualität ist im Außen überall zu finden, um uns herum, weil Bilder ein bestimmtes Bild von Attraktivität und Geilheit verbreiten. Sexualität in sich selbst zu finden, die eigene Sexualität zu pflegen, bedingt jedoch, als fühlender Mensch in sich selbst ehrlich hinein zu horchen und den eigenen sexuellen Erregungsquellen nachzuspüren. Diese Schritte kann ich alleine unternehmen und auch gemeinsam mit meinem Partner, wenn bereits (wieder) eine Verbindung besteht. 

Jedes Paar ist ein Universum für sich und kann für sich eigene sexuelle Regeln aufstellen. Spielerisch, ohne Bewertung, ohne Schere im Kopf. Den Partner dabei als Kompagnon der eigenen Lust zu verstehen und zu einer gemeinsamen Lust zu finden, die mit Erwartungen und Spannung spielt und gleichzeitig von Vertrautheit und Innigkeit getragen wird, ist die Essenz der erotischen Verführung wie wir sie verstehen.

Wir sind überzeugt, Beziehungen lassen sich wieder aufladen, wenn man sich ihnen widmet und das Feuer noch nicht ganz erloschen ist. Und wenn ein Paar die Erwartungen von außen loslässt und sich einlässt auf ein neues gemeinsames Kapitel, in welchem die Lust, einander immer mal wieder zu verführen, als essenzieller Bestandteil etabliert wird. Man kann sich prägen und so bestärken. Das gemeinsame Leben verführt uns dann in die Lust und diese Verführung macht Lust auf das gemeinsame Leben. 

Anne Brandt und Till Ferneburg (2022)

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